Mit Biodanza ein Gespür für die Wunder des Lebens entwickeln

»Guten Tag, schöner Tag!«, so startete ich jeden neuen Tag mit meiner Tochter, als sie noch klein war und gerade sprechen konnte. Das hatte sie derart verinnerlicht, dass Rosalie den Tag auch so begrüßte, wenn sie bei ihrer besten Freundin übernachtete, was bei deren Eltern für Heiterkeit sorgte. Heute ist meine Tochter ein Pubertier und dieser morgendliche Ausspruch kommt ihr nur spärlich über die Lippen. Doch als Insider-Gag ziehe ich sie manchmal damit auf und wir müssen beide schmunzeln.

Dankbarkeit entwickeln

Den Tag freudvoll zu begrüßen, heißt für mich, dankbar anzunehmen, was er mir bereiten wird. Das Leben jeden Tag aufs Neue willkommen zu heißen. Darauf zu vertrauen, dass alles seine Richtigkeit hat und ich geführt werde. Dabei geht es nicht darum zu meinen, dass ich per se machtlos und hilflos bin und sowieso nur akzeptieren kann, was ist. Es geht hier nicht um Resignation, die nur Frustration mit sich zieht. Jeder Tag birgt mal mehr, mal weniger Herausforderungen. Wenn wir schwierige Momente auf die richtige Weise verstehen, erfüllt uns das mit Dankbarkeit. Mit der Haltung der Dankbarkeit sehen wir ein und dieselbe Situation auf eine ganz andere Art und Weise. Das macht das Leben leichter.

Eine Geschichte

Ein Mann saß an seinem Küchentisch und schrieb rückblickend auf das vergangene Jahr: »Dieses Jahr bin ich 65 Jahre alt geworden und musste in Rente gehen, obwohl ich meine Arbeit wirklich mag. Zeitgleich ist auch noch mein Vater gestorben. Zu allem Überfluss hatte mein einziger Sohn einen schweren Autounfall, und mein Auto war danach Schrott. Mein Sohn musste ewig im Krankenhaus bleiben, weshalb er das Schuljahr nicht geschafft hat. Das letzte Jahr hat mir nur Leid und Unglück gebracht.«

Seine Frau fand den Brief und schrieb ihn um: »Dieses Jahr bin ich 65 Jahre alt geworden und durfte in den Ruhestand gehen, dabei bin ich noch gesund und aktiv! Jetzt habe ich mehr Zeit für die Dinge, die ich wirklich liebe. Im selben Jahr ist mein Vater gestorben; er war 95 Jahre alt, gesund und musste nicht leiden. Er ist einfach eingeschlafen. Mein Sohn hatte einen Unfall und obwohl mein Auto kaputt war, ist mir mein Sohn ohne bleibende Schäden wiedergegeben worden. Ein weiteres schönes, von Gottes Gnade erfülltes Jahr ist zu Ende.«

Nichts für selbstverständlich halten

»Sei dankbar für das, was du hast, bevor es zu etwas wird, das du mal hattest«, las ich neulich in einem Online-Beitrag. Das könnte ein Lebensmotto sein. Im Corona-Jahr wurde für manche Leute ein Spaziergang zu einem Luxus. Ob sie wohl je zuvor wahrgenommen haben, einen Spaziergang in der Natur als ein Geschenk zu sehen? Ob sie sich je dafür bedankt haben, dass sie solche Spaziergänge machen konnten? Wahrscheinlich haben sie das nur selten getan. Normalerweise nehmen wir Menschen so viele Dinge für selbstverständlich, besonders bezüglich unserer Gesundheit, der Umwelt oder den Menschen in unserem Leben. Erst wenn sich diese Dinge ändern, erkennen wir, wie wichtig sie uns sind. Wir erkennen zum Beispiel nie die Wichtigkeit unserer Zähne, solange sie da sind und keine Schmerzen bereiten. Wenn aber auch nur ein Zahn herausfällt, geht unsere Zunge immer wieder zu der bleibenden Zahnlücke und fährt darüber. Da fehlt etwas! Dies wird immer wieder aufs Neue von der Zunge überprüft und bestätigt. Bei der Dankbarkeit verschiebt sich unser Fokus von dem, was uns fehlt, zu dem, was da ist und was an Segnungen in der Vergangenheit schon da war.

Unser Leben ist zerbrechlich

Die jüngsten Unwetter-Katastrophen in Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und im oberbayerischen Landkreis Berchtesgadener Land führen uns vor Augen, wie zerbrechlich unser Leben ist. Umso bedeutsamer ist es, bewusst in der Gegenwart zu leben. Manchmal erkennen wir den Wert eines Augenblicks erst, wenn er zu einer Erinnerung geworden ist. Wenn wir uns die Zeit nehmen, wirklich zu bemerken, was im jetzigen Moment vor sich geht, und darauf achten, nicht an die Vergangenheit bzw. die Zukunft zu denken, dann erkennen und schätzen wir die großen und kleinen Dinge, die uns gerade umgeben. Im hohen Tempo unseres Lebens vergessen wir, die Schönheit jedes einzelnen Augenblicks zu genießen.

Wir versäumen es, unseren Liebsten unsere Liebe zu zeigen, ihnen unsere Zeit und Aufmerksamkeit zu schenken. Später, wenn uns klar wird, wie viel wir durch unser eigenes Verhalten versäumt haben, belastet diese Erkenntnis unseren Geist. Wir hören die bewegenden Nachrufe von Menschen für ihre Liebsten, wenn sie tot sind. Hätten sie dieselben wertschätzenden Worte noch zu Lebzeiten gesagt, wäre viel Glück in deren Herzen gesät worden.
Ist die Zerbrechlichkeit nicht ein Aufruf zu lernen, jeden Augenblick, den wir haben, richtig zu nutzen und ihn mit Liebe und Dankbarkeit zu leben?

Der Tanz des Lebens

Als ich vor acht Jahren auf die Biodanza-Methode stieß, befand ich mich in einer persönlichen Krise, ein Lebensumbruch stand an. Das Gefühl des Mangels war dominant, die Fülle des Lebens kaum greifbar. Biodanza eröffnete mir einen Raum der Begegnung mit mir selbst, anderen Menschen und dem großen Mysterium. Das brachte mich aus der Enge. Durch das Tanzen in der Gruppe bekam die Fülle immer mehr Nährboden, damit stieg auch die Dankbarkeit. Heute leite ich selber Biodanza-Sessions; dabei kann ich beobachten, wie die TeilnehmerInnen durch einen Prozess gehen, der sie zu mehr Achtsamkeit, Dankbarkeit und Lebensfreude führt.

Biodanza ist eine auf Tanz und Bewegung basierte Methode zur Persönlichkeitsentwicklung. Biodanza wurde Ende der 60er Jahre von Rolando Toro, einem chilenischen Pädagogen und Psychologen erfunden. Der Begriff Biodanza geht zurück auf das Griechische »bios« (Leben) und das Spanische »danza« (Tanz). Der »Tanz des Lebens« wird allein, zu zweit und in der Gruppe getanzt. Tanzschritte gibt es keine. Die Leiterin macht jeden Tanz vor, um den TeilnehmerInnen einen Eindruck zu verschaffen. Die TeilnehmerInnen setzen diese Anregung in einen freien Tanz um. Jede Biodanza-Session ist einem Thema gewidmet. In Biodanza geht es um ein Miteinander, um Begegnung ohne Worte, ohne Wertung, um äußere sowie innere Bewegung und Berührung. In Biodanza werden die eigenen Potenziale erfahrbar und integriert.

Biodanza bietet uns die Möglichkeit, aufmerksamer und wachsamer durch die Welt zu gehen. Dabei steht bei dieser Methode zur Persönlichkeitsentwicklung nicht die Dankbarkeit als solche, jedoch die Ehrfurcht vor dem Leben im Mittelpunkt. Die Dankbarkeit für das Leben entwickelt sich mit der Zeit von selbst, indem die eigene Wahrnehmung unmerklich durch Bewegung, Begegnung und Berührung geschult wird. Beim regelmäßigen Praktizieren von Biodanza werden die Sinne geschärft, das Bewusstsein wird weiter und feiner. Es entwickelt sich ein Gespür für die Wunder des Lebens, die großen und die kleinen. Trotz aller oder gerade mit den Aufs und Abs wird das Leben in seiner Komplexität als etwas Heiliges erfahren. Das unterstützt uns darin, Dankbarkeit zu entwickeln, und damit wächst auch die Lebensfreude! In dem geschützten Rahmen einer Tanzeinheit sind wir im Einklang mit unserer inneren Zeit. Innen und Außen schwingen im Gleichklang. Das macht uns präsent und lässt uns den Augenblick erfahren. Dieses Gefühl für das Hier und Jetzt beim Tanzen oder bei einer spontan entstehenden Umarmung katapultiert uns aus der Wertung. Das Leben fühlt sich satt an. Wir erfahren die Fülle des Lebens in einer inneren und äußeren Bewegung. Die Freude, die wir im Tanz erfahren, erfüllt uns mit Dankbarkeit.

Dankbar zu sein ist eine Entscheidung. Es liegt an uns, in jedem Augenblick unseres Lebens Ja zum Leben zu sagen mit all seinen Höhen und Tiefen und uns für das zu entscheiden, das uns trägt. Biodanza verfeinert die Wahrnehmung für das, was uns zuträglich ist und was nicht, was anzunehmen ist und was nicht. Wenn es uns gelingt, unser Unterscheidungsvermögen dahingehend zu entwickeln, die veränderbaren Dinge zu beeinflussen und die unveränderbaren zu akzeptieren, können wir dankbar in Freiheit leben.

»Die Wurzel der Freude ist Dankbarkeit.
Es ist nicht Freude, die uns
dankbar macht — es ist Dankbarkeit,
die uns Freude macht.«

Bruder David Steindl-Rast

Praktische Tipps

  • Denke über dein Leben nach und erinnere dich an die Segnungen, mit denen du überschüttet wurdest.
  • Nutze die Zeit, um deine Lieben besser zu verstehen und die Herzensbande zu stärken.
  • Lasse das Gewahrsein des gegenwärtigen Augenblicks in all deine Handlungen einfließen.
  • Lebe jeden Augenblick so gut du kannst voll bewusst.

Dieser Text erschien 2021 in der Ausgabe Nr. 22 im Magazin MAAS
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